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Toni

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Toni
· bearbeitet von Toni

Wir schauten zu, wie sich unsere Sprößlinge an die Kehle gingen, und mein

Freund Kai fragte:

 

"Meinst du, der Chinese wertet ab?"

 

Das Bedenkliche war: lch hatte mit der Frage gerechnet. Die Knirpse würden ihre

Angelegenheiten regeln, aber China drückte erheblich auf die Stimmung.

Früher hätten wir übers Kino geredet oder die Bundesliga. Doch in Tagen wie

diesen sind Kleinanleger in erster Linie Kleinanleger und als solche auf Insidertips

angewiesen, auf ein gutes Informantennetz. Kai zum Beispiel kennt einen pensio-

nierten Broker und mich. Ich wiederum kenne China aus Zeiten, als ich die "Peking

Rundschau" abonniert hatte, und ich weiß, was Schweinefleisch süßsauer auf chine-

sisch heißt: "Nummer 32". Unsere Sprößlinge waren mittlerweile in einen ausdauernden

Stellungskrieg verwickelt, beschmissen sich mit Sand, andere Kinder gerieten in die

Schußlinie, Mütter schrien auf, ich behielt die Nerven.

 

Für den Kleinanleger ist das wichtigste: Nerven behalten. Der Chinese, meinte ich,

würde nie abwerten. Der Asiate im allgemeinen werte ungern ab. Damit würde er

sein Gesicht verlieren. Kai nickte befriedigt. Dann begannen wir vorsichtig, unse-

re Söhne zu entzerren, und verloren kurzfristig mächtig an Gesicht.

Glückliche Tage. Da war diese leichte Nervosität, dieses untergründige Rumoren,

aber die Kurse hielten sich noch. Sie notierten nur ein wenig "leichter", wie wir

 

Börsianer sagen. Es war eine andere Epoche, damals, vor vier Wochen, als die Asien-

krise noch im wesentlichen dort stattfand, wo sie hingehörte: in Asien.

Kai und ich sind Aktionäre. Viele sind es, seit die Telekom die Volksaktie erfand. In

Amerika hält jeder Aktien, weil er den staatlichen Sicherungssystemen mit Recht

mißtraut. Hier sind es gerade mal über acht Prozent. Dennoch: In Espresso-Bars und

Altersheimen zwischen Passau und Flensburg wird gezockt, daß sich die Kurse bie-

gen, und wir sind dabei. Wir sind vor allem dabei, seit Anlageberater als konservativ

gelten, wenn sie Gewinne auf Wertpapiere von nur 20 Prozent versprechen.

Selbstverständlich leisteten auch die großen Publikumszeitschriften sanfte Über-

zeugungsarbeit. Die Titelgeschichten des Frühjahrs hatten alle den gleichen Tenor:

 

Noch keine Aktien, du ldiot? Alle anderen werden Millionär und du nicht, du Ver-

sager. Erschieß dich! Unsere Portfolios waren prächtig bestückt. Ein Portfolio ist die

Gesamtheit der Aktien, die man sich zulegt. Aktien kaufen macht Spaß, wenn dich

jede einzelne anbrüllt: Ich bin das Los der Woche.

 

Hier was und da was, und davon darf's ein bißchen mehr sein, und auf dem Weg zur

Kasse nimmt man noch was für die Kleinen mit. Wir hatten Blue Chips und Exoten,

also solide Großunternehmen und Namen, von denen keiner wußte, was sie eigentlich

herstellen. Man wußte nur, daß sich ihr Wert ständig verdoppelte. Wahrscheinlich

druckten sie Geld. Vor allem setzten wir auf Branchen, denen wir die besten Zukunfts-

chancen einräumten. Kai hatte sich auf Technologie-Werte spezialisiert, ich auf Alters-

heime und Potenzmittel. Später nahm ich noch eine Telefongesellschaft an Bord. Wir

leben in einer Gesellschaft, die altert und sexbesessen ist und telefoniert wie verrückt.

Denn man kann mit Telefonieren so viel Geld sparen, daß man bald Millionär ist und

sich zu Manfred Krug auf die Dachterrasse setzen kann.

 

Es war ein schöner Sommer. Sicher, man litt ein wenig unter dem Dauerregen an

der Ostsee, aber die Notierungen auf dem Computerschirm waren alle im grünen

Bereich. Beschwingt warf man sich am Strand die Regenhaut über und freute sich

des Lebens, ganz nach dem Motto: Geld allein macht auch glücklich.

Der 20. Juli brach den Rekord nach oben. Ich versprach meiner Frau ein neu-

es Auto und meinem Sohn neue, strengere Eltern, wenn er nicht sofort den Gummi-

delphin herausrückt, der dem netten Mädchen vom Strandkorb nebenan gehört.

Auch wenn es in den nachfolgenden Wochen sanft weiterbröckelte: Ich hatte ein

geregeltes Familienleben, geregelte Mahlzeiten, und abends las ich

meinem Sohn hektographierte Börsenbriefe vor, die von Verfassern mit Doktor-

 

titeln und Kinnbart in kleinen Auflagen gegen Gebühr vertrieben wurden. Man soll-

te die wesentlichen Dinge des Lebens früh vermitteln.

Dazu gehört Insiderwissen! Börsentechnisch gesprochen, waren Kai und ich un-

glücklich auf hohem Niveau, denn der Dax, der gerade den Sechstausender-Gipfel

erklommen hatte, lag nun irgendwo in den hohen Fünftausendern. Eine verdiente

Pause, sagten wir uns, eine Art hohes Basislager, um Kräfte für den nächsten Gip-

felsturm zu sammeln. Über den einen oder anderen Kursausreißer nach

unten lächelten wir noch abgebrüht, besonders, wenn er nicht die eigene Aktie betraf.

Schließlich weiß jeder, daß eine Veba unter 100 ein Schnäppchen ist und ein klei-

ner Kurseinbruch nur eine "notwendige Korrektur". Sicher machten wir uns Sorgen

um Clintons Lewinsky-Verhör. Laien können das nicht wissen, aber der Dow Jones ist prü-

de. Ein belastender DNA-Test genügt, und er rutscht nach unten wie eine Präsiden-

tenunterhose. Ob man amerikanische Werte abstoßen sollte?

Kleinanleger sind Kosmopoliten, und sie sind kosmopolitischer und solidarischer,

als es die Protestgeneration je war. Den Kleinanleger geht alles ganz persönlich an.

Während sich der Protestler in den sechziger Jahren ganz auf unterjochte asiati-

sche Kolonialvölker konzentrieren konnte, muß der Kleinanleger indonesische

Mietwagenfirmen und Scherings brasilianische Antibabypillen-Prozesse gleichzei-

tig im Auge behalten.

 

Der Kleinanleger drückt den Volkswirtschaften der Welt den Daumen. Er weiß:

Wirtschaften und Geldströme sind verflochten. Das schafft Leidensgemeinschaf-

ten über Grenzen hinweg. Ich begann in die Tischgebete den Wunsch einzuschlie-

ßen, daß Venezuela nicht abwertet.

 

Plötzlich jedoch begann der Berg zu rutschen. Ich legte mentale Übungen ein. Ich

murmelte den Namen des japanischen Premiers. Offenbar patzte ich bei der Aus-

sprache, denn meine Frau wurde rot, und mein Sohn wies mich zurecht: "So was sagt

man nicht, Papa." Ich fand es bedenklich, daß die Drachme unter Druck geriet. Dann

kaufte ich Veba nach, um zu verbilligen. Ein Schnäppchen.

Das hatte ich bei n-tv gelernt, das ich nun öfter einschaltete. Dann zugreifen,

wenn eine Aktie an Boden verloren hat. Allerdings hörte Veba einfach nicht auf, an

Wert zu verlieren. Zu spät erfuhr ich, daß es noch eine andere Börsenweisheit gab:

"Never catch a falling knife" - versuch nie, ein fallendes Messer aufzufangen. Aller-

dings: Wann weiß man, ob eine Aktie nur eine fallende Aktie ist oder ein fallendes

Messer, daß dir die zuschnappenden Finger durchtrennt?

 

Die Börsianer auf dem Frankfurter Parkett wußten es auch nicht, weshalb sie sich

darauf verlegten, was am meisten Spaß macht. Kaufen. Lächelnde Analysten

großer Bankhäuser, die später nie wieder gesehen wurden, empfahlen, jetzt zuzu-

greifen.

 

Man lernt eine neue Sprache. Börsensprache. Es gibt zum Beispiel keine

schlechten Papiere. Es gibt nur solche, die "langfristig sicher eine gute Anlage sind".

Dann heißt es: Finger weg für Rentner und alle anderen über 20, denn man

wird sich über diese stinkende Depotleiche jahrzehntelang ärgern, Morgen für

 

Morgen. Natürlich hatten wir, neben Werten des Neuen Marktes, solide deutsche

Edelmarken als Unterfutter mit im Portfolio. Schließlich sind wir keine Spekulanten,

sondern Investoren. Ein großer Unterschied. Ein Spekulant ist, pfui Deibel, nur an

der schnellen Mark interessiert. Ein Investor dagegen kann die Namen der

Unternehmen buchstabieren, an denen er Anteile hält, und ist ansonsten ganz

besonders an der schnellen Mark interessiert. Kurz gesagt: Ich hätte nie gedacht,

daß ich irgendwann in meinem Leben einmal einem Spritzdüsenhersteller die

Daumen drücken würde.

 

Plötzlich ging alles sehr schnell. Der erste Kurssturz des Dow Jones am 4. August,

der bis dahin dritthöchste der Geschichte, traf mich völlig unvorbereitet in den

Rücken. Ich war nämlich mit der Asienkrise beschäftigt und paukte gerade eine

Liste mit Kaufempfehlungen total "unterbewerteter Aktien" der Zeitschrift "Capital",

als der mir völlig unbekannte Analyst Ralph Acampora den Markt kaputtredete.

 

Natürlich versuchte ich sofort, ihn wieder hochzureden. Aber bei Kai war be-

setzt, und im Weißen Haus meldete sich nur der Anrufbeantworter mit der Mittei-

lung, daß der Präsident im juristischen Sinne nie eine sexuelle Beziehung zum Dow

Jones unterhalten habe. In der Zwischenzeit hatte die internationale Finanzgemeinschaft

mich persönlich für die amerikanische Konjunkturabflachung verantwortlich gemacht

und mein Portfolio entwertet.

 

Ich bekam kalte Füße. Ich lag noch knapp vorne. Meine Kriegslist: Ich würde die fallenden

Messer an mir vorbeiregnen lassen und sie dann unten einsammeln. Kai hatte dafür

überhaupt kein Verständnis. Weder er noch Carola Ferstl von n-tv. Keine Blondine der

Welt ist cooler. Sie hat den Ansatz zu Grübchen und eine Stimme aus Stahl. Und wenn

sie von Bullen und Bären spricht, klingt es so, als habe sie jeden einzelnen von ihnen

persönlich mit Blicken in die Knie gezwungen. Alle also redeten auf mich ein: Das mußt

du durchstehen, du Kleinanleger! Du blutest, na und? Wir bluten alle. Offenbar ist das

Börsenspiel eine Art Mutprobe. Wer in der Raserei hin auf den Abgrund am längsten auf

dem Gas bleibt, hat gewonnen. Merkwürdige Aktienphilosophie. Die Idee ist: alles stehen

lassen, auf alle Ewigkeit. Das Geld komplett in den virtuellen Raum einsperren und nicht

antasten, denn den richtigen Zeitpunkt zum Verkauf gibt es nie. Eine steigende Aktie zu

verkaufen ist dumm, weil sie weitersteigen und weitere goldene Eier werfen könnte. Eine

fallende Aktie zu verkaufen hieße, Verluste zu realisieren, und ist daher doppeldumm,

denn sie könnte die Verluste schon am nächsten Tag mit einem kleinen Anstieg wettgemacht

haben. Es ist wie mit der Bankräuberbeute: Das Geld ist vergraben, und du darfst es nicht

anrühren, sonst fliegst du auf. Allerdings gilt diese Logik offenbar nur für Kleinanleger.

Wenn Kurse nach unten rauschen, heißt das ja, daß viele, viele Aktien verkauft werden.

Erwiesenermaßen waren es jedoch nicht Kleinanleger, sondern große Häuser, die da

"Gewinne realisierten". Es waren Profis, die Massen abwarfen. Es waren Unternehmens-

präsidenten wie der meiner LHS Group, die auf dem Weg nach draußen ihre Aktienoptionen

verscherbelten. Und die Kleinanleger standen brav im Regen herum, tapfere Frontschweine,

die die Stellung hielten. Nichts für mich. Meine Anlageberaterin schien persönlich enttäuscht

von mir. Ich solle doch nicht kopflos werden. Immerhin, ich war ihr wichtig. Ich reimte mir

ihre Widerstände so zusammen: Wenn ich jetzt aussteige, ich, der typische Kleinanleger,

steigen alle anderen auch aus. Dann ist die Börse kaputt, Deutschland geht den Bach runter,

die Banken entlassen Personal, ihr Mann würde die Scheidung einreichen, und Aufständische

würden die Innenstädte plündern. Das ganze System stand auf dem Spiel. Würde ich ein

zweites 1929 verantworten wollen? Aber sicher. Die Solidarität des Kleinanlegers hat Grenzen,

besonders wenn es um eigene Ersparnisse geht. "Nun gut", seufzte sie pikiert, "wenn Sie meinen ...".

 

Ich schlief eine ruhige Nacht. Und dann wurde das Leben zur Hölle. Ich hatte mich entschlossen,

gegen den Dax zu wetten - und wiederum gewann der Dax. Das grausame Schicksal hatte ihn

gedreht. Auf meinem Computerbildschirm: alles grün. Die Messer fielen nicht mehr, sie hatten

Flügel bekommen. Und ich id*** war auf dem Tiefpunkt abgesprungen (oder der Marke, die wir

alle damals - selige Dax-Zeiten von 5270 - für den Tiefpunkt hielten). Es gibt nichts Dümmeres.

Ich schämte mich. Und nun wurde ich abgestraft von der Lottogemeinschaft der Aktionäre. Kai

blickte auf mich herab, Passanten schüttelten den Kopf, wenn sie mich sahen, mein Sohn fragte

mich unter Tränen: "Papa, stimmt es, daß du Siemens bei 118 abgestoßen hast?"

 

Nun waren die Kurse auf und davon. Ich würde mich ihnen ein Lebtag hinterherkaufen müssen.

Dann las ich noch, daß Abby Cohen, die große alte Dame der Wall Street, bei ihrer Prognose

für ein neues Rekordhoch am Jahresende blieb. Diejenigen also, die die Nerven behalten hatten,

würden demnächst mit ihren neuen Jaguars und BMW-Roadstern am Spielplatz vorfahren und

ihre Kinder in teuren Privatschulen anmelden. Ich begann, mir Argumente fürs öffentliche

Schulsystem zurechtzulegen und mit den Grünen zu sympathisieren, die den unrechtmäßig

erworbenen Reichtum der Jaguar-Fahrer wenigstens über den Benzinpreis wieder abschöpfen

würden. Ich murmelte Beschwörungen über den Kursseiten der " Frankfurter Allgemeinen".

Das Wunder - es trat ein. Der Dax hatte Mitleid. Ein paar Tage später holte er mich dort wieder

ab, wo ich abgesprungen war. Ich stieg wieder ein, mit lauter Schnäppchen im Portfolio, ab

nach oben.

 

Das Glück hielt zwei Tage. Dann blieb der Dax ächzend hängen. Danach rasselte er abwärts.

Zunächst dachte ich, er wollte nur schnell noch ein paar andere Feiglinge einsammeln. Doch

nun hielt er überhaupt nicht mehr an. Er wollte nur runter. Das Tageslicht verschwand, und

ich saß festgeschnallt im Expreß nach unten, hinab in den siebten Kreis der Hölle. Es sind

andere Lebensbedingungen hier unten. Die Tage sind klarer strukturiert. Sie beginnen um

7.15 Uhr mit "Märkte am Morgen" auf n-tv. Diese berichten halbstündlich von der Stimmung

auf dem Parkett. Man muß sich diese Morgenmeditationen als permanent tagende

Selbsterfahrungsgruppe von Börsensüchtigen vorstellen. Sicher, sie reden von "Kurskorrekturen"

und tragen Anzüge und zaubern "Unterstützungslinien" aus dem Hut, aber eigentlich sagen sie:

 

"Hallo, ich bin der Michael von der Deutschen Bank, und ich hasse mich und meinen Beruf

und bin mit meinem Latein am Ende."

 

Nach diesen Übungen vor dem Fernseher, die wir Kleinanleger so peinlich genau einhalten

wie Strenggläubige die Gebete nach Mekka, beginnt der Tag. Nun kommt es darauf an, den

Sohn einzukleiden, Frühstück zu bereiten, die Wirtschaftsseiten zu lesen und 80 Zigaretten

zu rauchen, ohne das Tickerband aus den Augen zu verlieren. Es folgen die Telebörsen von

n-tv um 11.30 Uhr, 12.30 Uhr und 13.30 Uhr. Bis dahin sollte man sich rund tausendmal

gefragt haben: Warum bin ich id*** nicht zwei Jahre früher eingestiegen und zwei Wochen

früher ausgestiegen, und dann sollte man sich zutiefst für diesen Fehler verachten.

 

Es sind Tage der Selbstbegegnung denn die Börse ist pures Zen. Du hast deine Gefühle unter

dem Vergrößerungsglas. Schau sie dir genau an: Gier, Neid, Schadenfreude, Haß, Angst, Panik,

alles gute alte Bekannte, von denen du nie etwas wissen wolltest und die jetzt mit dir qualmend

auf der Sofakante sitzen und n-tv gucken. Es gibt ein paar eiserne Regeln, um hier unten in der

Börsenhölle zu überleben.

 

Erstens:

 

Nimm nie das Telefon vor acht Uhr morgens ab, denn es könnte Kai sein, der dir rät, jetzt in

thailändische Banken zu investieren.

 

Zweitens:

 

Nimm auch später nicht das Telefon ab. Es ist Zeitverschwendung. Man meldet sich selbst-

vergessen mit "Mannesmann" , stammelt Entschuldigungen, und es gibt ohnehin nichts, absolut

nichts, das wichtiger sein könnte als der Kurs deiner LHS-Aktie.

 

Drittens:

 

Bitte deine Ehefrau, die Batterien in der Fernbedienung zu ersetzen, bevor sie die Wohnung

verläßt, um mit Kind und Kegel zur Mutter zu ziehen. Soviel Zeit muß sein.

 

Viertens:

 

Meide den Umgang mit aktienlosen Freunden, die du wegen ihrer nackten, blöden Aktien-

losigkeit früher offen verhöhnt hast.

 

Fünftens:

 

Wenn ein Experte künftig über einen Wert am Neuen Markt die Wendung gebraucht, "da ist

Phantasie drin" , mach es wie Odysseus: Wachs in die Ohren, am Mast festbinden, Kreditkarte

verbrennen, Selbstsperre für WallStreet, Frankfurt und Tokio.

 

Sechstens:

 

Die Börse ist pure Psychologie. Sie hat nichts mit Fakten zu tun. Jeder Experte wird jeden

erdenklichen Börsenverlauf mit vernünftig klingenden Argumenten belegen können, den

neuen Rekordflug genauso wie den Supersupercrash. Mach dich darauf gefaßt, daß der Dax

auf minus 18 000 fällt. Dann freust du dich schon, wenn er bei minus 17000 für eine Weile

unentschlossen herumzappelt.

 

Im Börsen-Voodoo gibt es verschiedene Gruppen. Die exotischste sind wohl die Charttechniker.

Wenn sie auftauchen, ist die Party vorbei. Dann wandern die Stühle auf den Tisch, und vom

Parkett werden die Blutlachen gewischt. Die Charttechniker sind vergleichbar mit den Leuten,

die todsichere Systeme für den Roulette-Tisch entwickeln. Sie tragen rosa Hemden zu grünen

Jacketts, sprechen süddeutsche Dialekte und erläutern auf großen, selbstgefertigten Schautafeln

die verschiedenen "Unterstützungslinien" der Aktienkurse. Das sind dicke, rote Balken, unter

welche die Aktienkurse nicht fallen dürfen, bei Strafe allergrößter Verachtung. Sollten sie es

dennoch tun, werden sie von der nächsten unteren Linie aufgefangen. Der Dax haßte diese

Linien in den vergangenen Wochen. Er durchschlug sie wie ein beleidigter Karatekämpfer.

Zack, wusch. Dann schmiß er uns die Bretterreste um die Ohren und zog weiter. Nach unten.

Wir Kleinanleger also lagen im Börsenkeller und bluteten. Kai und ich schworen uns stündlich:

Sollten wir hier je halbwegs heil wieder herauskommen, würden wir alles auf Postsparbücher

transferieren und bei ehrlichen Mikrozinsen ein fortan rechtschaffenes karges Langeweiler-

Leben führen.

 

Das Todesurteil kam schneller als erwartet. Es wurde von Carola Ferstl verlesen. Am Montag

vergangener Woche begann sie die Telebörse mit den Worten:

 

"Wenn Sie in den vergangenen Tagen kalte Füße hatten, sollten Sie jetzt besser ausschalten.

An der Wall Street gab es ein Blutbad." Innerhalb von drei Minuten war

 

der Dow Jones um 500 Punkte gefallen. Der Grund waren, wie sollte es anders

 

sein, die Russen. Nachdem der junge Premier Kirijenko den Rubel abgewertet hatte, war er

selbst abgewertet worden. Nun aber war der von Jelzin vorgeschlagene Kandidat Tschernomyrdin

von den Kommunisten in der Duma im ersten Wahlgang abgelehnt worden. Sein Gegenspieler,

ein finsterer Altsowjet mit steifem Hut, hatte die freie Börsenwelt zertreten. Mir war zwar nicht

ganz klar, warum Disney-Chef Eisner seine Aktien abstoßen sollte, weil Sjuganow "njet" gesagt

hatte, aber Börse ist, wie gesagt, Psychologie. Rot hatte gewonnen.

 

Kai keuchte von einer neuen Existenz irgendwo auf Mallorca. Ich blieb merkwür-

dig gefaßt. Mein Sohn würde sich auch in einer Gesamtschule eingliedern lernen.

Vielleicht könnte man ihn zur Vorbereitung in einen Selbstverteidigungskurs

stecken? Solange unser altes Auto noch nicht auseinanderfällt, könnte ich ihn dort-

hin fahren.

 

Der New Yorker Kurssturz war der zweittiefste in der Geschichte. Der Dax stand vor der

Börseneröffnung früh am nächsten Morgen auf dem Fenstersims, um zu springen. Doch

merkwürdig: Er sprang nicht. Sicher, er begann schwach. Doch dann stand dort Friedhelm

Busch, der n-tv-Veteran, auf dem Frankfurter Parkett und war gut gelaunt. Nicht nur, weil

er seinen 60. Geburtstag feierte, wie wir im Keller mit großer Rührung vernahmen.

 

Busch beschenkte uns. Mit seinem grauzerzausten Dirigentenhaupt sieht Friedhelm Busch

aus, als sei er in jedem Crash seit 1929 unter die Räder gekommen - und

jedesmal wieder aufgestanden. Und nun stand er dort wie ein siegreicher General.

Tokio hatte eine satte Plusvorgabe geliefert. Der Dax kletterte, er fiel, er fuhr

Achterbahn, aber er kletterte. Plötzlich strömte Geld aufs Parkett. Institutionelle

Anleger kauften, statt abzustoßen. Das New Yorker Blutbad vom Vortag blieb in

Frankfurt aus. Im Gegenteil. Als New York später noch mit über 1,2 Milliarden gehandelten

Aktien einen neuen Rekord aufstellte und der Dow Jones fast vier Prozent zulegte, läuteten

die Osterglocken. Die Erde hatte uns wieder, Kai und mich.

 

Am nächsten Spätnachmittag traf ich ihn auf dem Spielplatz. Wir waren beide

gealtert, beide gereift. Wir blinzelten in die Sonne. Unsere Söhne spielten einträchtig mit

einem neuen Modellauto, einem Jaguar. "Willst du jetzt tatsächlich aussteigen?"

fragte ich ihn. Er war entgeistert. "Bist du wahnsinnig?" Er hatte zugekauft. Ich auch.

 

So sind wir Kleinanleger. Die wahren Profis. In Schweden ließ man kürzlich einen

Börsen-Analysten gegen einen Affen antreten, der seine Aktien mit Dartpfeilen auswählte.

Der Affe gewann...

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Cornwallis

Meinst du "Kai" und "ich" sind immer noch im Markt?

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AzadKing

Lol sehr geil :). Wo haste das den ausgegraben :)

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roadi

schöne story :thumbsup:

 

 

teilweise erkennt man sich da wieder. zumindest in den gedanken. zum glück hab ich diese "wechselhaftigkeit" nicht mit dem gefühl dass einem ständig gewinne entgehen...

 

besonders gut gefallen hat mir, zitat:

Im Börsen-Voodoo gibt es verschiedene Gruppen. Die exotischste sind wohl die Charttechniker.

Wenn sie auftauchen, ist die Party vorbei. Dann wandern die Stühle auf den Tisch, und vom

Parkett werden die Blutlachen gewischt. Die Charttechniker sind vergleichbar mit den Leuten,

die todsichere Systeme für den Roulette-Tisch entwickeln. Sie tragen rosa Hemden zu grünen

Jacketts, sprechen süddeutsche Dialekte und erläutern auf großen, selbstgefertigten Schautafeln

die verschiedenen "Unterstützungslinien" der Aktienkurse. Das sind dicke, rote Balken, unter

welche die Aktienkurse nicht fallen dürfen, bei Strafe allergrößter Verachtung. Sollten sie es

dennoch tun, werden sie von der nächsten unteren Linie aufgefangen. Der Dax haßte diese

Linien in den vergangenen Wochen. Er durchschlug sie wie ein beleidigter Karatekämpfer.

Zack, wusch. Dann schmiß er uns die Bretterreste um die Ohren und zog weiter. Nach unten.

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Dendi

Der Dax stand vor der Börseneröffnung früh am nächsten Morgen auf dem Fenstersims, um zu springen. Doch merkwürdig: Er sprang nicht.

 

Das ist mein Lieblingssatz. Habe das gute Stück schonmal irgendwo gelesen (ich mein sogar in der Uni mal) ist aber immer wieder herlich, danke fürs Ausgraben :)

 

Gruß Dendi

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Feldmann
Meinst du "Kai" und "ich" sind immer noch im Markt?

 

 

Kai ist es auf jeden Fall, das versichere ich dir :lol:

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ReX

:P

 

LOL schÖner text :thumbsup:

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TurboLuke

super text. herrlich zu lesen!! er gibt eigentlich alles wieder was die börse ausmacht und warum sie wirklich fesselt.

wer ist der verfasser??

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