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Thomas

Die Wahrheit über den Euro

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Thomas

Hallo. Noch ein interessanter Text über die interne "Preisentwicklung" des Euros.

Nichts ist so, wie es scheint ;).

 

Die Wahrheit über den Euro

 

Verbraucher jammern über Wucher, Finanzminister Eichel ruft zum Boykott unverschämter Einzelhändler auf. Zu Recht? Die ZEIT veröffentlicht die neuesten Preisänderungen aller Produkte auf der Einkaufsliste des deutschen Durchschnittshaushalts

 

Es waren einmal viele kluge Leute, die behaupteten, Geld sei so eine Art Metermaß, nichts weiter. Eine Recheneinheit, die einem sagt, wie lange man arbeiten muss, bis man sich ein neues Auto kaufen kann, oder wie viel das Pfund Butter wert ist im Vergleich zum halben Kilo Margarine. Geld verstehen war nur ein anderer Ausdruck für: rechnen können. Aber das ist lange her.

 

Ungefähr fünfeinhalb Monate.

 

Damals wurde der Euro eingeführt, und wenn man vor dem Jahreswechsel Ökonomen fragte, wie sich die neue Währung auf die Wirtschaft auswirken werde, war die Antwort: Gar nicht! Künftig koste in Deutschland alles in etwa die Hälfte, und jeder verdiene nur noch in etwa die Hälfte. Real bleibe also alles beim Alten. Ganz einfach.

 

Ganz kompliziert. Nicht einmal ein halbes Jahr später trägt der Euro den Beinamen Teuro. Tomaten: plus 64 Prozent, Kartoffeln: plus 53 Prozent, Glühlampen: plus 13 Prozent - Bild beklagt fast täglich dreiste Preiserhöhungen, Bundesfinanzminister Hans Eichel empfiehlt, besonders unverschämte Einzelhändler zu boykottieren. Es scheint, die Ökonomen haben sich wieder einmal geirrt. In der deutschen Euro-Wirtschaft des Jahres 2002 ist nichts beim Alten geblieben, sondern alles ist teurer geworden.

 

Wirklich? Den Zweifel sät das Statistische Bundesamt. Nach dessen Aussage lag die Preissteigerungsrate in Deutschland im April bei nur 1,6 Prozent. Trotz Tomaten, Kartoffeln, Glühlampen. Irgendetwas stimmt da nicht.

 

Ein Grund, sich die Statistik genauer anzusehen. Ihre Basis sind 60 000 Haushalte - vom Single-Yuppie bis zur allein erziehenden Sozialhilfeempfängerin. 1995 schrieben sie das ganze Jahr lang auf, was sie konsumierten. So entstand der Einkaufszettel des Durchschnittshaushalts: 750 Produkte und Dienstleistungen. Der so genannte Warenkorb.

 

Jeden Monat durchkämmen 560 Mitarbeiter der statistischen Landesämter die Supermärkte und Boutiquen in 190 Dörfern und Städten. Für jedes der 750 Produkte melden sie im Schnitt 450 Preise. So ergibt sich die durchschnittsdeutsche Preisveränderung etwa der Salatgurke. Die ist seit April 2001 nicht teurer, sondern billiger geworden: minus 18,1 Prozent.

 

Dagegen muss man für Tomaten tatsächlich mehr bezahlen (plus 51,9 Prozent), genauso für Weißkohl (plus 33,1 Prozent) und Tabak Feinschnitt (plus 15 Prozent). Nur wirkt sich das kaum auf die gesamtwirtschaftliche Preissteigerung aus. Tomaten haben für das Budget des Durchschnittshaushalts wenig Bedeutung. So viel Gemüse essen die Deutschen nicht. Die Tomate geht mit einem Gewicht von nur 0,95 Promille in die Gesamt-Preissteigerung ein. Ähnlich geringen Einfluss hat die Hilfe von Rechtsanwälten (0,97 Promille), die übrigens billiger wurde (minus 1,5 Prozent). Genau wie Tintenstrahldrucker (minus 17,2 Prozent) und die Miete für Ferienwohnungen (minus 6,7 Prozent), die das Haushaltsbudget viel stärker belasten. Macht für alle Produkte zusammen nur plus 1,6 Prozent. Trotz Euro.

 

Das bestätigt auch eine Studie der Uni Erlangen-Nürnberg, die 1213 Produkte untersuchte. Woher also die Aufregung? Sie rührt erstens daher, dass der Warenkorb zwar den Verbrauch des Durchschnittshaushalts spiegelt, viele reale Singles und Familien aber anders konsumieren. Sinkt der Preis von Druckern, profitiert nur, wer sich einen kauft. Wird Tabak teurer, stört das Nichtraucher wenig. Die individuelle Preissteigerung kann stark von der gesamtwirtschaftlichen abweichen.

 

Sie hat zweitens damit zu tun, dass der Mensch kein kühler Rechner ist. Psychologen der Uni München legten Testpersonen Speisekarten vor, mit alten D-Mark und neuen Euro-Preisen. Die Probanden sahen Preiserhöhungen selbst bei exakter Umrechnung. Ein Effekt wie vor 30 Jahren in Großbritannien. Als man dort die Währung auf das Dezimalsystem umstellte, klagten viele über hohe Preise. Tatsächlich waren die weitgehend die alten - die Zahlen waren neu. Die meisten Leute aber wissen gar nicht, was etwa ein Glas Sauerkirschen kostet. Dann kommt der Euro - und der Verdacht, die Kirschen seien früher billiger gewesen. Waren sie nicht. Sauerkirschen in Gläsern: minus 15,2 Prozent.

 

Ungeschickterweise haben die Einzelhändler gerade jene Preise erhöht, die jeder im Kopf hat, auch das weist das Statistische Bundesamt nach: Brötchen (plus 7,3 Prozent), H-Milch (plus 11,8 Prozent). Dass gleichzeitig Heizöl (minus 6,7 Prozent) und Gas (minus 6,0 Prozent) billiger wurden, hat zwar für das Budget des Durchschnittshaushalts größeres Gewicht. Aber Gas und Öl kauft man nicht jeden Tag. Von Brötchen und Milch schließt es sich dann leicht auf Farbfernseher oder Personalcomputer, obwohl auch die jetzt billiger sind. Die Erwartung schafft sich das Ergebnis.

 

Und plötzlich ist nichts mehr beim Alten.

 

Von R. von Heusinger und W. Uchatius

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